Thomas Hitzlsperger wird mit fast schon nordkoreanischer Mehrheit zum Präsidiumsmitglied berufen, die Satzungsänderung zur Online-Abstimmung wird abgelehnt, der Präsident reagiert auf kritische Fragen unwirsch und gewählt wird ein Vereinsbeirat, der die Interessen aller Mitglieder vertreten und sie repräsentieren soll. Demnach sind die Mitglieder im Schnitt über 40 Jahre alt, entweder Führungskraft, Unternehmer oder Professor und fast ausschließlich männlich. Keine großen Überraschungen also bei der Mitgliederversammlung.
Interessant ist allerdings, dass zur letzten außerordentlichen Versammlung ca. 14.000 Personen kamen. Am ersten Advent verloren sich rund 1.500 Anwesende in der Messehalle. Und dabei steigen die Mitgliederzahlen kontinuierlich, so kann Präsident Wolfgang Dietrich bald das 60.000ste Mitglied begrüßen. Woran liegt das? Dass es mit der Mitbestimmung zumindest gefühlt nicht weit her ist? Dass viele nur kommen, wenn es G’schenkle gibt? Oder hat sich im Verhältnis Verein/Mitglieder grundsätzlich etwas verändert?
Wahrscheinlich alles zusammen. Denn die Mitglieder werden zu Kunden bzw. werden vom VfB als Kundschaft und „Zielgruppe“ betrachtet, die mit entsprechenden Angeboten getriggert werden soll: zum Beispiel mit fast täglichen Newslettern (“Wer ist dein +1?“), mit Bierdeckel- und Member-get-Member-Aktionen, wie man sie sonst von Zeitschriften-Abos und Fitness-Ketten kennt. Schließt man seine Mitgliedschaft in Zukunft ab wie einen Mobilfunkvertrag und kündigt auch entsprechend emotionslos, wenn es ein besseres Angebot eines anderen Vereins gibt? Ist das der Beginn der Hägelesierung, benannt nach Erich Hägele, der Mitglied in 15 Vereinen ist und sich zum Vereinsbeirat wählen lassen wollte (und die wenigsten Stimmen erhielt)? Oder ist das Ganze „normal“ und diejenigen, die dies kritisch sehen, sind weltfremde Romantiker?
Wahrscheinlich beides. Denn es hat schon immer Fans gegeben, die alles mitmachen: Abstiege, Auswärtsfahrten, gruselige Heimspiele, schlechtes Bier. Und es hat schon immer die gemäßigten Fans gegeben, die mitleiden und mitfiebern, deren Lebensmittelpunkt aber nicht der VfB Stuttgart ist. Und auch die Event-Fans sind nichts neues. Die, die stets dann zu enthusiastischen VfB-Supportern werden, wenn große Gegner kommen und das Wetter gut ist oder weil es einfach hip ist, ins Stadion zu gehen. Daran muss man nicht Schlechtes finden, nicht alle VfB-Fans sind gleich. Die Mischung macht’s. Ich habe aber den Eindruck, als ob Mitglieder und Fans zunehmend zur „Ware“ werden: Also zum willfährigen, zahlenden Publikum, gut für die Statistik und die Stimmung.
Mir wäre lieber, der VfB würde so offensiv spielen wie er um Mitglieder wirbt. Muss denn der VfB zum Parship des Fußballs werden? “Alle 90 Minuten verliebt sich jemand in den VfB – jetzt Mitglied werden“. Das Ziel mit den Aktionen heißt offensichtlich: je mehr, desto wichtiger. Und es geht darum allen zu zeigen, dass Präsident Dietrich mit seinen angepeilten 100.000 Mitgliedern nicht größenwahnsinnig ist. Aber der Club wird nicht identitätsstiftender, je mehr Mitglieder er hat. Welche Aktion kommt als nächstes? 12 Monate VfB-Mitglied sein und nur 10 zahlen? Schnupper-Mitgliedschaften für drei Monate? Wird es attraktive Rückholangebote für diejenigen geben, die frustriert aus dem Verein ausgetreten sind (“Dein Comeback im Brustring”)? Günstige Wechselangebote für Mitglieder anderer Vereine (“Dunkelrot statt Königsblau”)? Oder stehen demnächst die Zeugen Dietrichs vor der Tür und wollen mit uns über den VfB Stuttgart reden?
Doch Fans sind so viel mehr als Kunden. Ein Verein ist immer nur so gut wie seine Fans und gerade in der zweiten Liga haben die Fans den VfB zu einem echten Riesen gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ob Präsident Dietrich und sein Team wissen, wofür sie arbeiten: Für die Mitglieder und zigtausend Anhänger, für ein Publikum, das diesem Verein erst einen Sinn gibt.
Was bringen 100.000 Mitglieder, wenn sie nicht mitreden sollen oder wollen? Dann sollte man doch auch so ehrlich ein und sie als das bezeichnen, was sie sie sind: Kunden.
Warum denn diese Aufregung?
Ich kenne keine AG mit Mitgliedern, entsprechend ist das ja eh Jacke wie Hose. Shareholder kannst Du auch nicht werden, also hast Du auch keine Mitbestimmung. Der Vereinsbeirat ist ein zahnloser Papiertiger und dazu noch besetzt mit nahezu hauptsächlich den Leuten, die die letzten Jahre schon im Ehrenrat waren, damit ist eine Mitgliedschaft im Verein auch keine wirkliche Mitbestimmungsmöglichkeit mehr. Aber lass sie doch machen, ist ja alles erfolgreich, vorgestern, gestern, heute und morgen erst, Mann, wir starten durch!!! Schon seit Jahren, siehst Du das denn nicht, Du “Vollidiot”?
Ich für meinen Teil habe resigniert, ich komm empathisch mit dieser Konstellation einfach nicht mehr klar, das wurde jedes Jahr ein bischen weniger und weniger, und heute:
Heute freue ich mich immer noch ein klein wenig, wenn ich Siege vernehme, wenn ich den Brustring sehe, wenn mal wieder ein paar Fans zum Spiel fahren oder vom Spiel kommen, aber ich selbst, ich selbst werde erst wieder hingehen, wenn diese AG weg ist und Fussball wieder im Verein gespielt wird, von den Bambinis über Amas bis zu den Profis.
Lieber dvL,
das wäre wirklich schade, denn damit hätte der VfB Dich gänzlich verloren, denn es wird die Zeit nicht mehr zurück kommen, in der alle Aktiven von Bambini über Amateure (die es sowieso bald nicht mehr geben wird) bis zu den Profis beim VfB in einem Verein spielen werden. Und Dir entgeht auch was, denn die Spiele im Neckarstadion sind sehr stimmungsvoll, vom Feeling her ein ganz besonderes Gefühl ;-)
Wenn es jedes Jahr weniger wurde bei Dir, dann kann es ja eigentlich nicht an der AG gelegen haben ;-) Im Ernst: Die Ausgliederung ist eine zeitgemäße Maßnahme, um die Wahrscheinlichkeit von Erfolgen zu erhöhen. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Man muss abwarten, was der Vereinsbeirat wirklich tut bzw. bewirken kann. Ich hätte eine heterogene Zusammensetzung bevorzugt.
Der Club/die AG darf sich nicht vom Publikum (Fans/Mitglieder) abkoppeln und ich sehe da im Moment eine Tendenz, wie schon beschrieben, dass es eventuell nicht mehr darum geht, dass der VfB eine Herzensangelegenheit ist, sondern ein Produkt, das möglichst attraktiv rüber kommen soll.
“Die Ausgliederung ist eine zeitgemäße Maßnahme, um die Wahrscheinlichkeit von Erfolgen zu erhöhen.”
= Ich verkaufe mein Auto, weil der Käufer damit wahrscheinlich schneller fahren kann als ich, aber dann bin ich sauer, wenn der Typ nach Leipzig und nicht nach Stuttgart fährt.
Worte, die mich als langjähriger Fan nachdenklich stimmen…