“Da ist er! Um 11.28 Uhr kommt der Boulevard-Reporter im Taxi & mit Rollkoffer an. Erster Eindruck: sympathisch. Jetzt muss er nur noch lernen, journalistische Standards einzuhalten“

So oder so ähnlich wurde die Ankunft des potentiellen Neuzugangs El Bilal Touré von Atalanta Bergamo in einem Tweet angekündigt.

Würden wir in unserem Blog Texte mit 100 Worten und 600 Anschlägen veröffentlichen, die eigentlich nur längere Bildlegenden sind, hätten wir bald keine Seitenaufrufe mehr. Der Boulevard kann sich das leisten, schließlich hat man an ihn sowieso keine großen Ansprüche. Deshalb verzeiht man ihm auch, dass der potentielle neue Stürmer des VfB Stuttgart mit dem Friseur von Enzo Millot verwechselt wird. Kann mal passieren, sind wir aber sowieso gewohnt, dass Falschmeldungen veröffentlicht werden und das ohnehin mäßige Niveau regelmäßig unterschritten wird.

Apropos Niveau:
“Done Deal“, „confirmed“, „join with immediate effect“, “total agreement“. Die Transfersprache hat einen begrenzten Wortschatz und wahrscheinlich kommt das den sogenannten Transferjournalisten entgegen. Befeuert von den Spielerberatern überbieten sie sich mit Wasserstandsmeldungen, mit sich widersprechenden Aussagen, wenn sie nicht gleich voneinander abschreiben. Mit vermeintlichen Spielerwechseln und frei erfundenen Gerüchten lassen sich viele Menschen erreichen. Die scheinen sich an Märchen nicht zu stören. „Niveau?“, fragen sich deshalb die Transferjournalisten. “Weshalb, warum?“

Transferexperten besetzen die Schmuddelecke des (Sport-)Journalismus: In atemberaubendem Tempo schreien sie den neuesten (Transfer-)Klatsch heraus, ohne sich dabei immer um die Wahrheit zu kümmern. Es geht vor allem darum, der Erste zu sein, auch wenn es nicht stimmt. Tempo ist wichtiger als Qualität. Und es geht um Unterhaltung. Wer den Transfergerüchten folgt, bekommt klassische Fortsetzungsgeschichten geliefert. Und Serien sind nicht nur bei Netflix und Amazon Prime wahnsinnig erfolgreich. Fabrizio Romano, der Star der Szene, hat schwindelerregende 22 Millionen Follower. Mit dieser Reichweite ist man eigentlich gar nicht mehr auf Gerüchte angewiesen. Man kann sie selbst generieren. Aber das passiert natürlich nicht!

Die Branche boomt: Immer mehr Journalisten und Nichtjournalisten sehen sich genötigt, zu Transfer-Experten zu werden, und von den anderen abschreiben. Kein Wunder, denn jede noch so spärliche Informationen wird vom Publikum gierig aufgenommen, geteilt und diskutiert. Kein Wunder, dass da lieber aus 150 Metern iPhone-Fotos von vermeintlichen Neuzugängen gemacht werden, als sich mit den Hintergründen des Transfers zu beschäftigen. Denn das würde Arbeit machen, sich aber bei weitem nicht so gut klicken.

Transfergerüchte sind also nichts anderes als Klatsch
Stilistisch orientieren sich die Protagonisten an hochwertigen Magazinen wie „Bild der Frau” „Die neue Post“ oder „Das goldene Blatt“. Deshalb wäre es für deutsche Transferjournalisten nur logisch, Tik-Tok-Accounts, Webseiten oder YouTube-Kanäle mit Namen wie „Transfer Revue“ oder „Transfer Illu“ oder “Das goldene Transfer Blatt“ zu gründen. Das lässt sich sicher kapitalisieren. Und womöglich kombinieren mit ein paar Klatschgeschichten aus dem Privatleben der Profi-Fußballer.

Ein echter Transferhammer ist die Verpflichtung von El Bilal Touré nicht. Von einer Leihgebühr unter drei Millionen, einer Kaufoption bzw. eine Kaufpflicht unter bestimmten Konditionen von rund 16 Millionen ist die Rede. Eine zusätzliche Option in der Offensive – war das wirklich notwendig? Oder im Klatsch-Sprech: „Gibt’s jetzt Zoff im Sturm?“ So langsam wird’s jedenfalls eng da vorne. Ob hinter den vermeintlichen Top 3 Deniz Undav, Ermedin Demirovic und Touré der neu verpflichtete Nick Woltemade und Jeong Woo-Yeong noch auf ihre Einsatzzeiten kommen?

Der 22-jährige Touré hat bereits in der Serie A, Ligue 1 und in der Primera Division Erfahrungen gesammelt. Aber vor allem bei Atalanta Bergamo warfen ihn Verletzungen zurück, so dass er letzte Saison in der Liga nur auf elf Spiele und drei Treffer kam. Aber er erhöht die Optionen für Sebastian Hoeneß, denn ein solch bulliger Stürmer befand sich bisher noch nicht im Kader. Und sind wir ehrlich: Ohne diesen Verletzungs-Makel wäre ein Spieler wie Europokalsieger Touré für den VfB gar nicht realisierbar.

Mehr Möglichkeiten hätte Hoeneß auch gerne in der Innenverteidigung. Er pocht auf einen Innenverteidiger mit einem rechten Fuß und Stammplatz-Potential. Zurecht wie die aktuelle defensive Personalnot zeigt. Die Transferjournalisten haben einige Namen rausgeschrien, Klatsch-Sprech: “Stuttgart sucht den Super-Verteidiger!“. Geklappt hat es mit einer Verpflichtung trotz Hysterie der Transferexperten nicht. Ist auch schwierig: Schließlich suchen Hoffenheim, Wolfsburg und Leverkusen ebenfalls nach einem Innenverteidiger mit Niveau, also Stammplatz-Potential. Der Abgang von Waldemar Anton war früh klar, von daher ist es überraschend, dass der VfB bis jetzt noch keinen Ersatz gefunden und verpflichtet hat.

Aber bis zum Transferschluss am 31. August werden wir in diesem Zusammenhang sicher noch von “Done Deal“, „confirmed“, „join with immediate effect“ und “total agreement“ lesen. Und dann müssen wir ein paar Monate ohne den Klatsch auskommen.

Klatsch-Sprech: „Delle am Helm ohne Transfergerüchte?”

Zum Weiterlesen:
Die nächste Mitgliederversammlung ist eine ordentliche und findet im Frühjahr 2025 statt, aus zeitlichen und finanziellen Gründen. So haben es der Interimspräsident Allgaier und sein Kollege Grupp in Abstimmung mit den Gremien entschieden.

Bild: Simone Arveda/Getty Images