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Als wir im Stadion übernachten wollten

VfB-Präsident Erwin Staudt war ganz aufgeregt vor dem ersten Champions League Heimspiel und das auch noch gegen Manchester United: “Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir für Deutschland spielen.“ Ob ganz Fußball-Deutschland zuschaute, ist nicht überliefert. Dass ganz Fußball-Deutschland nach dem 2:1-Sieg gegen Manchester von den „Jungen Wilden“ begeistert war, ist nicht übertrieben.

Es war ein trüber, nieseliger, ungemütlicher Tag, es war Wasen, aber es war egal. Wenn die Spieler von Manchester ähnlich auftreten würden wie ihre Fans, dann hat der VfB gute Chancen. Aber nur dann, dachte ich. Denn kein Manchester-Fan konnte mehr gerade laufen, nachdem sie auf dem Wasen waren: Sie fielen Treppen hinunter, singen konnten sie nicht und wenn sie Schals schwenken wollten, schlugen sie sich selbst ins Gesicht.

Ich saß mit Sebastian und meinem Vater auf der Gegengerade, mein Vater hatte sich sogar CL-Merch geholt. Vadder rutschte auf seinem mitgebrachten Sitzkissen hin und her, natürlich wie immer bruddelig, nachdem der VfB das erste Spiel gegen die Glasgow Rangers mit 2:1 verloren hatte. Er erwartete nicht viel, er hatte schon zu viel mit seinem VfB erlebt. So falsch lag er gar nicht: Was sollte der VfB – immerhin Tabellenführer der Bundesliga – gegen eine Mannschaft ausrichten, mit Spielern wie Ruud van Nistelrooy, Cristiano Ronaldo, Ryan Giggs, Paul Scholes, Garry Neville, Roy Keane, Rio Ferdinand – Diego Forlan saß sogar nur auf der Bank.

Aber es begann sehr verheißungsvoll.
Ronaldo, schon damals ziemlich schnöselig, versuchte es rechts, er versuchte es links. Und es gelang ihm nichts. Rechts fiel er auf den unschuldigen Blick von Andreas Hinkel herein und links ließ sich Philipp Lahm schon damals nichts bieten. Er war noch kein Weltmeister, Turnierdirektor, Phrasendresher oder Berater des VfB-Vorstands, er war eifrig, dienstbeflissen, zuverlässig und unglaublich gut. Typisch Felix Magath: Der Trainer brachte den 19-jährigen Linksverteidiger mit in die Abschlusspressekonferenz und sagte: “Philipp ist der einzige, der seinen Platz sicher hat, alle anderen müssen noch kämpfen.“ Man kann wohl sagen, er liebte Lahm.

Kapitän Keane stolzierte mit durchgedrücktem Kreuz durchs Mittelfeld, als ob es ihm gehören würde. Störend war für ihn vor allem das Dribbelgenie Alex Hleb, der den hartgesottenen Iren merklich nervte. Aber immer wenn er ihn mal zu fassen bekommen hatte, stellte sich Zvoni Soldo dampfend in den Weg. Vor ihm hatte selbst Keane Respekt. Unauffällig wie immer der brave Jurica Franjes, selbst Horst Held auf Augenhöhe mit der Weltklasse weil er gegen den gleich großen Scholes spielte. Fast hätte er zu Beginn der zweiten Halbzeit sogar eine Ecke direkt verwandelt, wenn nicht eben dieser Scholes auf der Linie gerettet hätte.

Die erste Halbzeit zeigte: Der VfB hielt mutig dagegen, von Ehrfurcht keine Spur, dafür sorgten alleine schon die Autoritäten Marcelo Bordon, Fernando Meira und natürlich Soldo. Wir dagegen machten uns über Ronaldo lustig und buhten van Nistelrooy für seine Arroganz aus.

Dann kamen die magischen zwei Minuten:
Der kleine Lahm gewann ein Kopfballduell und nachdem Ferdinand ausrutschte, hatte Imre Szabics keinen Gegenspieler mehr und sprintete alleine auf Keeper Tim Howard zu. Der Ungar schoss viel zu früh, so dachte ich zumindest. Aber deshalb sitze ich auch auf der Tribüne. Chirugisch genau schlenzte der VfB-Stürmer den Ball ins rechte Eck. Wir hatten uns noch nicht beruhigt, da passte Vranjes nach Ballgewinn auf Szabics, der zwischen die beiden Innenverteidiger direkt weiter auf Kevin Kuranyi spielte. Auch er lief alleine aufs Tor zu. Als das VfB-Eigengewächs den Ball von der Strafraumkante über Howard lupfte, war die Kugel eine Ewigkeit in der Luft. Die Zeit schien zu stehen. Das ganze Stadion brüllte den Ball ins Tor. Er klatschte an die Unterkante der Latte und war drin. Er war drin zum 2:0 gegen Manchester. Jetzt hatte sogar mein Vater ein gutes Gefühl.

Knapp 15 Minuten später war das schon wieder weg. Nicht nur bei meinem Vater, sondern im ganzen Stadion: Timo Hildebrand hatte ungestüm Ronaldo im Strafraum zu Fall gebracht. Ob man dafür zwingend Elfmeter pfeifen muss? Für uns jedenfalls ein lächerlicher Strafstoß, den van Nistelrooy in der 67. Minute unter die Latte drosch.

Magath reagierte und brachte Heiko Gerber und den hyperaktiven Christian Tiffert für Lahm und Vranjes. Seine Mannschaft blieb cool und vor allem defensiv sehr aufmerksam. Der VfB in dieser Saison so stabil wie nie: ganze 24 Gegentore kassierte das Team aus Cannstatt. Manchester dagegen zu lässig, ganz offensichtlich hatte das Team von Alex Ferguson den VfB unterschätzt und dachte, sie könnten auch mit einem Pint in der Hand drei Punkte mitnehmen. Dabei wusste Sir Alex, was ihn erwarten würde, er hatte noch vor dem Spiel gesagt, dass es ein unangenehmer Abend werden könnte für sein Team – wenn ihn die Journalisten zwischen Genuschel und Kaugummigekaue richtig verstanden hatten.

Wir fühlten uns wieder sicherer, als Sebastian zu mir sagte: „Wenn noch das 3:1 fällt, übernachte ich im Stadion!“ Ich nickte eifrig, obwohl mir kalt war, aber ich glaubte sowieso nicht mehr an ein Tor des VfB. Zu kontrolliert trat der VfB auf, Manchester fast schon mit Desinteresse am Spiel. Kurz darauf erhielt der VfB noch einen Elfmeter, nachdem Ferdinand im Strafraum Kuranyi böse in die Beine sprang. Zu unserem Glück verschoss Fernando Meira. Was niemand groß kümmerte. Das Team ging auf Ehrenrunde, wahrscheinlich wussten die Spieler schon damals, dass sie etwas Einmaliges vollbracht hatten.

Die Erinnerungen werden bleiben an eine magische Nacht gegen Manchester United. Wer dabei war, egal ob im Stadion oder vor dem Fernseher, wird das Spiel nie vergessen. Kevin Kuranyi spricht sogar vom “Spiel seines Lebens“. Er wird heute genauso an dieses Highlight von vor 20 Jahren zurückdenken wie seine Mitspieler – und wie wir.

STUTTGART, GERMANY – OCTOBER 1: VfB Stuttgart team group pose during the UEFA Champions League Group E match between VfB Stuttgart and Manchester United at the Gottlieb Daimler stadion on October 1, 2003 in Stuttgart, Germany. (Photo by Christopher Lee/Getty Images)

Das erste Champions League-Heimspiel in der Geschichte des VfB. Eine unglaubliche Atmosphäre im Neckarstadion (noch mit Laufbahn). Eine brodelnde Kulisse, in der alle von Anfang an davon überzeugt waren, Manchester United schlagen zu können. Der VfB stieß bis ins ins Achtelfinale vor, wo er nach 0:1 (Eigentor Meira) und 0:0 ausschied. Ein Erfolg, den der VfB nie mehr wiederholen konnte. Als einziges CL-Highlight folgte 2009 ein 1:1 gegen Barcelona (ausführlich hier).

Zum Weiterlesen:
vfb-taktisch hat sich das Spiel gegen Manchester ganz genau angeschaut.

Bilder:
Christopher Lee/Getty Images (Aufmacher und Mannschaftsbild), eigenes (CL-Merch)

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3 Kommentare

  1. Clemens sagt

    Ich habe das Spiel damals in Hamburg mit einem Arsenal Fan zusammen geschaut, der auch ansonsten ein versierter Premier League Zuschauer war. Die Erwartungen an einen VfB Punkt, geschweige denn an einen Dreier waren gering. Während des Spiels stand dann auch die meiste Zeit die Defensive im Brennpunkt und Bordon und Soldo waren für mich die größten Hoffnungsträger, dass diese Partie nicht in einem Debakel endet. Denn ManU war so beängstigend abgezockt, dass man jederzeit mit einem Geniestreich rechnen musste. Es war daher mehr das ungläubige Staunen von uns beiden, als ausgelassene Freude, die ich in meiner Erinnerung abgespeichert habe. Definitiv ein bemerkenswertes Spiel für die VfB Geschichtsbücher.

  2. PitchBlack sagt

    Das war zu der Zeit, als wir noch im B-Block standen. Zu diesem Spiel hatten auch wir unsere Eltern mitgebracht und ich erinnere mich noch an die S-Bahnfahrt zum Stadion, währen der wir zu dritt leicht verzweifelt unserer 1,61 m große Mama gegen die unfassbare Menge etwas Raum zum Atmen freigesperrt haben. Unvergessen auch das Knäuel aus Szabisc, Hleb, Kuranyi und Held, das nach den 2:1 nach A und B hochjubelte. Ikonisch.
    Und nachdem seine Klassen in den Tagen darauf rausfanden, dass er gegen ManU im Stehblock dabei war, hatte unser Papa in der Schule bei den Kids für Jahre Kultstatus.

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