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Der kleine Riese

Ilyas Tüfekci trug nur zwei Jahre das Trikot mit dem roten Brustring. Aber seine spektakuläre Spielweise begeisterte, die Fußballsprache hat für ihn den Begriff „quirlig“ erfunden.

Wer kennt noch Ilyas Tüfekci?
Wir erzählen seine Geschichte in drei Kapiteln.

Eine Migrationsgeschichte
Als Jugendlicher kam Ilyas Tüfekci 1971 im Alter von elf Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland. Nachdem er von einem Lehrer entdeckt wurde, sorgte er in diversen Berliner Jugendmanschaften schnell für Furore. Große Clubs wollten ihn verpflichten, „aber ich wollte im Team der Armen bleiben. Ich liebte meine Freunde“. Anfang 1979 bekam er bei Hertha BSC einen halbjährigen Probe-Vertrag und trainierte mit der Profi-Mannschaft. „Mein Vater hatte zu der Zeit einen guten Job bei der Post, verdiente 1.400 Mark im Monat, ich bekam bei der Hertha dagegen schon 1.700 Mark“, erinnert er sich in einem Interview mit einer türkischen Zeitung.

Da der Berliner Trainer Kuno Klötzer nicht auf den kleinen Stürmer setzte, wechselte Tüfekci im Sommer 1979 zum VfB, zu den „Amas“. Tüfekci wurde immer wieder mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert. Bei seinem ersten Profi-Spiel, als er beim Auswärtsspiel in Dortmund eingewechselt wurde, musste er beim Aufwärmen bereits entsprechendes Gebrüll ertragen. Das setzte sich fort, als er 1982 zu Schalke 04 wechselte.

Tüfekci sah in der Diskussion um die sogenannte „Rückführungsprämie” einen Hauptgrund, dass sich rechte Fans trauten, ihn zu beschimpfen: „Die Leute haben auf die Signale aus Bonn reagiert.” Mit dem Motto „Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg” hatte der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) 10.500 DM „Rückführungsprämie” für „heimkehrwillige” Türken geboten.

Die sportliche Geschichte
Mit den Amateuren des VfB erlebte er nach seinem Wechsel ein traumhaftes Jahr. In 29 Spielen erzielte er 18 Tore. Das Team von Trainer Willi Entenmann gewann 1980 im Finale gegen den FC Augsburg die Deutsche Amateurmeisterschaft. Tüfekci spielte zusammen mit Werner Gass, Etepe Kakoko, Gerhard Wörn, Gunnar Weiss, Rainer Adrion und Frank Elser. Gemeinsam mit Adrion und Elser wurde er in der nächsten Saison zu den Profis hoch gezogen. Während die anderen beiden nur jeweils zwei Spiele absolvierten, kam Tüfekci 23 Mal in der Bundesliga zum Einsatz und schoss 13 Tore. Damit war er bester VfB-Torschütze – und das obwohl Karl Allgöwer und Walter Kelsch ebenfalls im Kader standen.

Die Zeit beim VfB war nicht unproblematisch:
Sein direkter Konkurrent hieß Bernd Klotz, ein Mann wie ein Baum, „große Zentrumsstürmer wie Dieter Hoeneß und Horst Hrubesch waren in Deutschland groß in Mode”, meinte Tüfekci. Zudem waren nur zwei Ausländer im Team erlaubt. Die Plätze besetzten Dragan Holcer und Roland Hattenberger. Kurz nach Tüfekci kam auch ein gewisser Joachim Löw in der Saison 1980/81 zum VfB, für 700.000 DM Ablöse. Tüfekci sah Löw während des Trainings und dachte sich: „Ich bin viel besser als er. Warum haben sie so viel Geld für ihn ausgegeben?”

Zur Saison 1981/1982 wechselte Klotz zwar nach Dortmund, der VfB verpflichtete dagegen Dieter Müller und Didier Six, zudem stieß Peter Reichert von den Amateuren hinzu. Nur 164 Zentimeter groß, traute ihm Trainer Jürgen Sundermann die Mittelstürmerposition nicht zu. Tüfekci wollte sich dennoch durchbeissen und war sich sicher, dass er sich einen Stammplatz erkämpfen kann. Dann saß er auf dem Rückflug von einem Nationalmannschaftsspiel „zufällig“ neben Rudi Assauer, dem Manager von Schalke 04, das gerade abgestiegen waren. Der verprach ihm ein doppeltes Gehalt und einen Stammplatz.

Tüfekci wollte trotzdem bleiben, aber wie so oft, der VfB brauchte das Geld. Bei seinem Abschied von Stuttgart rief Tüfekci seinem Trainer Sundermann zu: „Ich gehe jetzt. Wenn ich geblieben wäre, hätte Dieter Müller auf der Bank Platz nehmen müssen. Und das weißt du auch!“

VfB-Fans waren auch schon Anfang der 80er Jahre meinungsstark und kreativ. Tüfekci erfreute sich aufgrund seiner erfolgreichen Saison großer Beliebheit und so drückten die Fans im Stadion ihren Unmut über den Wechsel aus mit einem Plakat: „Vorfelder, geh’ Du doch nach Schalke! Schick’ Ilyas Tüfekci wieder zum VfB!”

Der ehrgeizige Tüfekci stieg mit Schalke 04 direkt wieder auf. In der folgenden Saison gerieten die Knappen allerdings in Abstiegsnot und als Trainer kam – Jürgen Sundermann, der schon als VfB-Coach nicht unbedingt auf den kleinen Mittelstürmer setzte. Das wollte er sich nicht noch einmal geben. Mittlerweile türkischer Nationalspieler, wechselte er 1983 zu Fenerbahçe Istanbul, wo er 1985 türkischer Meister wurde. Von 1986 bis 1990 spielte er beim Lokalrivalen Galatasaray Istanbul, mit dem er 1987 und 1988 die türkische Meisterschaft errang und 1989 sogar im Halbfinale des Europapokals der Landesmeister stand.

Tüfekci trug nur zwei Jahre das Trikot mit dem roten Brustring. Aber seine Spielweise begeisterte, er hatte das Anarchische eines Straßenfußballers, strahlte eine kindliche Freude am Spiel aus und ließ sich vor dem Tor nicht aus der Ruhe bringen. Sein bestes Spiel im VfB-Dress machte er wohl am 16. Mai 1981: Der VfB gewann 3:1 beim Hamburger SV, bei denen unter anderem Frank Beckenbauer, Ditmar Jakobs, Manfred Kaltz, Jimmy Hartwig, Felix Magath und Horst Hrubesch aufliefen. Ilyas Tüfekci erzielte zwei Tore – beide mit dem Kopf. Trotz seiner 1,64 hatte er einen überragenden Kopfball: große Sprungkraft, gutes Timing. Nicht umsonst wurde er in der Türkei als „Der kleine Riese” bezeichnet.

Die Leidensgeschichte
Privat musste Tüfekci einen Schicksalsschlag verarbeiten, weil sich seine deutsche Freundin das Leben nahm. Als er 1983 in die Türkei wechselte, wollte sie ihm nicht nach Instanbul folgen und verkraftete die Trennung nicht. Am Ende seiner umfangreichen Trainerkarriere in der Türkei erkrankte Tüfekci an Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Eine seltene, eine tückische und eine unheilbare Erkrankung des zentralen Nervensystems. ALS greift über die Nervenbahnen die Muskeln an, was Spastiken und schwere Lähmungen nach sich zieht, die unweigerlich zum Tod führen. 11Freunde berichtete von auffälligen Häufungen dieser Krankheit unter Fußballern. Der italienische Staatsanwalt Raffaelle Guarinello vermutete einen Zusammenhang mit der Einnahme von Dopingmitteln, Beweise konnte er dafür nicht vorlegen.

Heute feiert Ilyas Tüfekci seinen 65. Geburtstag, herzlichen Glückwunsch!

Zum Weiterlesen:
Die Geschichte erschien erstmals in unserem Magazin “Best of vp”. In unserer Rubrik “vp-History” findet Ihr weitere Würdigungen und Porträts, von Hermann Ohlicher, Robert Schlienz (der heute vor 101 Jahren geboren wurde!), Jürgen Klinsmann, Gerhard Wörn und vielen anderen.

Bild: Imago

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2 Kommentare

  1. Don Felipe 1893 sagt

    Lieber Vertikalpass, vielen Dank, daß Ihr wieder einmal ein gutes Gespür für die Situation beweist: In aller Regel ist Fußball im Allgemeinen und unser VfB im Speziellen nicht nur die schönste Nebensache, sondern eigentlich die Hauptsache der Welt – nur im Moment gibt es wahrlich wichtigere Entwicklungen in Deutschland, leider sehr Alarmierende. Zu denen man nicht schweigen darf.

    Danke, daß Ihr anhand dieses Beispiels darauf hingewiesen habt, daß es auch schon früher stumpfsinnige Ausländerfeindlichkeit und noch stumpfsinnigere “Rückführungspläne” gab, und daß der Mensch zählt, nicht die Herkunft.

    • @abiszet sagt

      Lieber Don,
      herzlichen Dank für Dein Feedback. ich war wirklich schockiert als ich zu Tüfekci recherchierte. Und ja, die Parallelen sind erschreckend.
      Dazu hat es Tüfekci verdient, gewürdigt zu werden. Transfergerüchte und Oberflächlichkeiten bekommen leider viel mehr Resonanz.

      Natürlich steht heute der Geburtstag von Joachim Löw mehr im Fokus. Aber Tüfekcis Geschichte ist traurig und wichtig zu erzählen. Der VfB macht dies wie immer in seiner (zu) nüchternen Art:
      https://www.vfb.de/de/vfb/aktuell/neues/club/2025/65–geburtstag-ilyas-tuefekci/

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