Vor genau 5 Jahren, kaum einer erinnert sich, speziell in diesen trüben Zeiten, war ein großer Tag für den VfB und irgendwie auch für mich. Mein Kumpel Sammy sagte vor 5 Jahren und noch ein paar Wochen mehr „Komm’, gegen Barcelona sind wir im Stadion und dann fahren wir auch gleich ins Nou Camp!“ Meine Antwort „Gereist wird erst ab Viertelfinale!“ ignorierte er nichtmal und besorgte zusammen mit Heikx Karten für Hin- und Rückspiel des Champions League-Achtelfinals gegen den FC Messi Barcelona.
Da stand ich am 23.02.2010 vor dem Palm Beach, fror mir den Arsch ab, das Wulle war einfach auch zu kalt. Ich wartete auf Sammy, was eigentlich nie vorkommt, denn er ist immer und überall vor mir da, es schiffte jedenfalls und ich bekam langsam kalte Füße. Es war eng unter den Schirmen und es wurde gerempelt, aber die Fans waren euphorisch, zumindest zuversichtlich, ich weiss heute gar nicht mehr wie das geht. Jeder hatte so ein Grinsen im Gesicht, einer sagte “Der Messi kriegt heute auf die Socken” und alle so “Yoahhhrrr!”. Sammy hatte Karten im Losverfahren für die Gegengerade gefischt, an der Seite zur Cannstatter Kurve. Zwischen all’ den Leuten vorm Palm Beach steckte er sie mir zu als er kam, dann holten wir uns noch ein Weg-Bier. Am Drehschalter tastete ich alle meine Taschen ab, schaute Sammy verzweifelt an: Die Karte ist weg, sie ist WEG! Gibts doch gar nicht. Sammy griff in alle meine Taschen, wir gingen den Weg zurück und suchten den Asphalt ab, Sammy sagte nichts, aber in seinen Augen las ich irgendwas zwischen Idiot und Vollidiot.
“Geh’ Du rein, ich geh ins Palm Beach und betrink’ mich“, verabschiedete ich mich von Sammy. Ich hatte das nächste Bier nur kurz in der Hand, als Sammy anrief: „Komm zum Drehschalter, ich habe Deine Karte!“. Sammy ist ein High Potential, wie wir Unternehmensberater sagen, das wusste ich schon immer, er kann fast alles. Aber dass er David Copperfield ist, war mir neu. Also: Als Sammy auf unseren Plätzen ankam, saß einer auf meinem Platz. Er hätte die Karte schwarz gekauft, sagte er. Sammy nahm ihm die Karte ab, er kann wirklich sehr überzeugend auftreten und meinte, bis er zurück käme, soll er verschwinden.
Natürlich war der Typ noch da. Ich saß halb auf ihm drauf und Sammy drückte ihm immer wieder einen Ellenbogen in den Magen, das war mindestens gelb-würdig, wir agierten zu dritt griechisch-römisch auf zwei Schalensitzen. Bei brenzligen Szenen sprangen wir dem Vordermann gerne ins Kreuz, da die Stimmung bestens war, gar kein Problem für niemand. Es gab viele solcher Situationen.
Ibrahimovic, Messi, Iniesta, Puyol, Pique, Xavi, Yaya Touré, ja, ja, alle waren wirklich im Kessel. Sami Khedira führte den VfB aufs Feld und sein Team zeigte ein leidenschaftliches und respektloses Spiel. Griffige Zweikämpfe, viel Laufarbeit, dichte Linien. Die Katalanen lächelten noch überheblich, als Timo Gebhart einen Ball freistehend daneben köpfte, als Cristian Molinaro, dieses Teilzeitgenie in Stuttgart, den Weltstar Lionel Messi locker abkochte und Ibrahimovic gegen Matthieu Delpierre überhaupt nicht zum Zlatanieren kam. Als Cacau schließlich zum 1:0 einnickte, wollten viele, dass Barcelona zu Man United wird, dass in 2010 nochmal 2003 ist. Aber in der zweiten Halbzeit spulte der damals beste Club der Welt sein Pensum beamtenmäßig runter, Ballbesitz und ermüdende Passfolgen, bis eben doch Ibrahimovic der Ball vor die Füße flog und er das Ding ins VfB-Tor drosch. Ernüchternd zu sehen, dass sich die Katalanen kaum freuten, “war doch eh’ klar” stand in ihren Gesichtern geschrieben.
Cacau war nicht nur wegen seines Toren auffällig: Er stieß immer wieder in die Schnittstellen, ließ Puyol und Pique stehen wie Wartende in der Bierschlange beim Palm Beach. So einen bräuchte der VfB auch jetzt: manchmal aufbrausend, dann eigensinnig und mit dem Kopf durch die Wand, aber immer sympathisch, immer alles für den Verein gebend, die anderen mitreißend. Der brauchte das Wappen nicht küssen, solche hohlen Gesten der Fussballer-Generation Selfie waren sein Ding nicht. Er war der schwäbischste Brasilianer, der deutsche joga bonito-Stürmer im WM Kader 2010, der sympathischste Helmut, der Bürgermeisterkandidat mit den meisten Bundesligatoren. Ach, Cacau, come back in den Kessel, Du fehlst!
Wie der Typ an meine Karte kam, wurde nie geklärt, is’ auch egal. Beim Rückspiel in Barcelona behielt Sammy sie vorsichtshalber. Die Stimmung in der Stadt war ausgelassen: Barca-Fans waren sich sowieso sicher, dass sie weiterkämen und wann kommt man als VfB-Fan schonmal nach Barcelona ins Nou Camp? Auf der Straße, in der U-Bahn, in den Tapas-Bars riefen (später dann: gröhlten) Sammy und ich immer „Barca eliminato!“. Die Barca Fans lachten und antworteten „Stuttgart kaputt“. Und wie Recht sie hatten und haben. Die waren nicht David Copperfield, sondern Nostradamus.
“Was ist aus dem Verein geworden?”, fragte sky-Kommentator Marcel Reif beim Spiel gegen Dortmund. Innerhalb von fünf Jahren vom Achtelfinale der Champions League auf den letzten Tabellenplatz und Abstiegskandidat Nummer 1! Bang Bang, this is how it goes down: Held, Bobic, Mäuser, Hundt, Wahler, dazu Pogrebnyak, Kuzmanovic, Marica, Camoranesi, Simak, Lanig, Bastürk, Mandjeck, Boulahrouz, Philipp Degen, Audel, Elson, Mamadou Bah, Hoogland, Felipe Lopes, Macheda, Torun, Rausch, Abdellaoue, Haggui, Kvist, Rojas – eine Liste des Grauens, oder? Man kann mal daneben liegen, aber in dieser Konsequenz und Beharrlichkeit ist das schwer beeindruckend.
If you can’t make it there, you can’t make it everywhere, denn in Stuttgart sind die Voraussetzungen deutlich besser als an anderen Bundesligastandorten. Anstatt dessen eine Mannschaft, die über Jahre konzeptlos und unter Einfluss ständig wechselnder Trainer zusammengestellt wurde. Aber lassen wir das. Hatten wir alles schon 100 Mal. Samstag is’ Hannover: Da gibts drei Punkte. Fragt sich nur für wen. Wenn bei der zweitschlechtesten Rückrundenmanschaft die Wende nicht gelingt, dann ist Stuttgart inklusive Huub wirklich kaputt. Und eliminato aus der Bundesliga.
Ein sehr lesenswerter Live-Ticker zum Spiel findet sich bei kessel.tv
Bild:
Lario Tus / Shutterstock.com
Wahnsinn, was du da machst. Lässt einen in schönen Erinnerungen schwelgen und kommst anschließend mit einer fünffachen Backpfeife in Form eines fulminanten Namedroppings daher. Bitter, ganz bitter, diese Aufzählung.
Gefühlt gibt es nichts, was diesen Absturz aufhalten könnte. Vielmehr noch: Man schaut seit Jahren dabei zu, wie der VfB weiter abstürzt, und in jeder Sommerpause pflegt man wieder die vage Hoffnung, dass nun endlich die Neustrukturierung und damit die Wende kommt. Nix da, es geht weiter bergab. In dieser Saison sehe ich das erste Mal wirklich schwarz, was den Ligaerhalt anbelangt. Für jemand, für den normalerweise das Glas immer halb voll ist, ein ganz hartes Brot.
Klasse Artikel. Ich kann mich noch daran erinnern als wir in der CL Saison 03/04 (?) gegen Glasgow gespielt haben. Da war die ganze Stadt mit kleinen VfB Spielern geschmückt und alle waren zuversichtlich. Keine Ahnung mehr wie das Spiel ausging, aber einer von Glasgow fuhr damals danach Schlangenlinien auf der für uns falschen Straßenseite. Hat aber niemand gestört.
Meine Theorie ist ja, dass die Leistung vom VfB mit dem “Bau” von Stuttgart 21 korreliert. Umso tiefer gebuddelt wird und umso mehr Geld verbrannt wird, desto schlechter spielt der VfB. Christian Groß ist mit den Spielern 2010 noch bis zum Bahnhof durch den Schlossgarten gejoggt, dann kam der 30.9. und was bis heute mit Stuttgart und dem VfB passiert ist wissen wir alle.
@Christoph
Ja, so ist das mit dem VfB, und in der Aufzählung habe ich sicher noch den einen oder anderen vergessen ;-) Aber immer noch glaube ich an den Klassenerhalt. Weiss nicht, woher das kommt. Vielleicht weil es in der Vergangenheit immer geklappt hat? Es bleibt fast nichts mehr anderes als in der Vergangenheit zu schwelgen. Wie andere Vereine, … 1860, RW Essen, St. Pauli …
@Tom
Vielen Dank! Glasgow war m.E. auch in der “ManUnited-Vorrunde” ;-) Und ein gewisser Timo Wenzel schoß das Tor des Tages! Ein anderes Glasgow-Spiel ist mir da mehr in Erinnerung – gegen Celtic, ein oder zwei Jahre vorher. Celtic führte schnell 0:2, das Ding war gelaufen. Trotzdem war die Stimmung außergewöhnlich gut, jedes Mal, wenn Hleb ein Solo ansetze, sprangen 50.000 Leute auf! Das Spiel wurde irgendwie gewonnen (bedeutete trotzdem das Ausscheiden) und und den S-Bahnen sangen Celtic- und VfB-Fans, tauschten Trikots … und Bier ;-)
Oh ja Celtic. Damals war ich auch im Stadion und das war – trotz dem Ausscheiden – einer der geilsten Stadionbesuche ever. Die Stimmung im und Rund um das Stadion war einmalig. Die U11 ist fast aus den Schienen gekiptt, so sind die Schotten da drin rumgehüpft:
Hail Hail, the Celts are here,
What the hell do we care,
What the hell do we care,
Hail Hail, the Celts are here,
What the hell do we care now..
For it’s a grand old team to play for,
For it’s a grand old team to see,
And if you know the history,
It’s enough to make your heart go,
GO-OH-OH-OH!
We don’t care what the animals say,
What the hell do we care,
For all we know,
Is that there’s going to be a show,
And the Glasgow Celtic will be there.
War das Geil!
Und ich war den Samstag darauf im altehrwürdigen Stadion zum Bökelberg und schaute mir Gladbach gg Schalke an und traft dort zufällig, wie solle es auch anders sein, einen Celtic Fan am Bierstand. Nach mehreren Bieren und Zigarren lagen wir uns singend im Arm. Ach war das ne schöne Zeit
Großartig!