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“Der dritte Wettbewerb” kann nur Champions League heißen

Als Chris Führich nach dem 2:0-Sieg gegen Union Berlin zum Spieler des Spiels gekürt wurde, kam Stadionsprecher Holger Laser an Serhou Guirassy vorbei und fragte ihn: „Ok, oder?“. Der Torschütze zum 1:0 antwortete auf deutsch: „Hundert Prozent verdient“. Er meinte damit sicher nicht nur die Wahl seines Mannschaftskollegen, sondern auch den weitgehend ungefährdeten Sieg gegen die Köpenicker.

Mitte der zweiten Halbzeit wurde auf der Anzeigetafel die Statistik der angekommenen Bälle gezeigt bis zu diesem Zeitpunkt: 722 für den VfB, unter 200 für Union. Der VfB hatte sehr lange Ballbesitzphasen, Union lief ständig hinterher, musste ununterbrochen verschieben und kam minutenlang nicht an den Ball. Das erinnerte mich an Ex-Trainer Tim Walter: „Borna, Kontrolle!“. Spielkontrolle war ihm in seiner Zeit beim VfB am wichtigsten und die hatte der Tabellendritte, definitiv. Bei Walter war dies ein Mittel, um den Gegner vom eigenen Tor fern zu halten, aber oft wirkte es als Selbstzweck. Der VfB hatte zwar viel Ballbesitz, verlor aber dann doch gegen Wehen Wiesbaden und Osnabrück. Unter Sebastian Hoeneß ist dies anders. Auch wenn der VfB in dieser Saison schon mehr Zielstrebigkeit gezeigt hatte, macht die Mannschaft der Ballbesitz nicht genügsam, sie bleibt geduldig und versucht damit, den Gegner auszuspielen.

In der ersten Halbzeit gelang dies einige Male, immer war die linke Seite mit Chris Führich und Maxi Mittelstädt beteiligt. Da scheinen sich zwei gefunden zu haben. Führich mit seinen Stärken im 1:1 und Mittelstädt mit seiner Dynamik. Überhaupt Mittelstädt: Er sprintet nicht, er jubelt, während er läuft, weil er in Stuttgart die Wertschätzung bekommt, die er bisher vermisste. Dabei hat er an gelungenen Defensivaktionen genau so eine große Freude wie an seinen unzähligen Vorstößen nach vorne.

Die Eisernen waren in Stuttgart nicht chancenlos, hatten sogar früh eine große Chance durch Yorbe Vertessen als sich Pascal Stenzel und Anthony Rouault nicht einig waren. Aber das ist der Unterschied zum VfB: Der verwandelt seine Großchancen. Nachdem Josh Vagnoman, Rouault und Enzo Millot ein paar halblebige Gelegenheiten ausließen, zeigte Guirassy einmal mehr seine Goalgetter-Qualitäten. Er schlich sich an der Strafraumgrenze an, Atakan Karazor spielte in die Gasse und dann wurde Frederick Rönnow im Tor der Berliner guirassiert. Der Treffer sah leicht aus, aber es gibt in der Bundesliga nicht viele, die diesen Ball so traumwandlerisch verwerten.

In die zweite Halbzeit starteten die Berliner ebenfalls gut, aber Alexander Nübel parierte überragend gegen Lucas Tousart und Kevin Volland. Es scheint ein echtes Problem des VfB zu sein, aus der Kabine wieder wach und konzentriert aufs Feld zurück zu kehren. Aber wenn einer das in den Griff bekommt, dann Sebastian Hoeneß. Er hat mittlerweile einen Schnitt von 1,97 Punkten pro Bundesligaspiel in seiner Amtszeit und dass er seinen Vertrag verlängert hat, ist ein starkes Signal nach innen und nach außen: „Hier geht was!“

Natürlich war seine vorzeitige Verlängerung wichtig: Er hat ein Spielssystem installiert, das zu den Spielern passt und in dem jeder seine Rolle kennt, jeder weiss, was er zu tun hat – und das allen Spaß macht, Spielern wie Zuschauern. Er hat einen Teamspirit installiert, in dem die Spieler sich Erfolge gegenseitig gönnen, das war nicht immer so in Stuttgart. Schließlich hat Hoeneß jeden einzelnen Spieler besser gemacht. Schaut Euch nur mal Mittelstädt an. Aus einem Mitläufer bei Hertha hat er einen Unterschiedspieler gemacht, aus Mittelstädt wurde in Stuttgart Maxistädt, der damit zu einem Kandidaten für die Nationalmannschaft geworden ist

Es ist aber auch ein Signal nach außen: Mit der Verlängerung hat er die aufkommende Unruhe beendet, die durch die immer wiederkehrenden einfallslosen Fragen nach Bayern München und seinem Onkel Uli entstanden sind

„Hier geht was!“, dachte sich sicher auch Führich. Zunächst zielte er ein wenig ungenau, kurze Zeit später machte er es besser: Einen hohen Abpraller stoppte er genial, legte sich den Ball zurecht und schlenzte ihn ins kleine Netz. Sein Signature-Move, quasi der inverse Robben, der sich aber offensichtlich nicht bis zu Gegenspieler Josip Juranovic herum gesprochen hatte. Der deckte ausgerechnet die linke Seite Führichs, statt seinen starken rechten Fuß zu zustellen.

Der Rest des Spiels: Ballbesitz. Und eine rote Karte, die ernsthaft diskutiert wurde. Wie weit war bei dem Zweikampf eigentlich der Ball weg?

Der Mittelpunkt des Stuttgarter Spiels war ohne Zweifel Angelo Stiller:
Du kannst den Ball an einem überfüllten U-Bahnbahnsteig auf ihn passen, er steigt zu den Gesängen „Nach der ganzen Scheisse, geht’s auf die Reise“ in die Bahn ein und verlässt sie am Charlottenplatz wieder – mit Ball am Fuß! Sein Spielverständnis, seine Ballsicherheit, seine Pressingresistenz machen den Unterschied aus und er denkt dabei immer nach vorne.

Der VfB muss für den Rest der Saison wie Stiller nur nach vorne denken: “Der dritte Wettbewerb”, wie ihn Hoeneß nennt, kann nur Champions League heißen.

Zum Weiterlesen:
Unser vertikalGIF beschäftigt sich mit “Babyglück und Kieferbruch”.

Die Süddeutsche Zeitung meint, dass der VfB “genau in dem Moment begonnen (hat), zu sich und einer zu ihm passenden Spielweise zu finden, als Hoeneß im April 2022 übernahm.“

Anthony Rouault spielt nach einem Kieferbruch, den er im Zweikampf mit Robin Gosens erlitten hatte, noch 20 Minuten weiter und fällt vier bis sechs Wochen aus. Gute Besserung!

Bild:
Christian Kaspar-Bartke/Getty Images

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9 Kommentare

  1. Clemens sagt

    Die VfB Spieler mussten mal wieder ordentlich einstecken. 90% Passquote und 70% Ballbesitz nerven den Gegner so dermaßen, dass die Grätsche in den Mann scheinbar das einzige Mittel ist, um die Passmaschinen aus Cannstatt zu stoppen. Tousart ist in diesem Punkt ein besonders auffälliger Eiserner. Bereits im Hinspiel hatte der Franzose seinen Landsmann Guirassy in eine längere Verletzungspause getackelt. Gibt es eigentlich Wadenbein- oder Kreuzband-Karma? Ich frag ja nur. Somit bleibt Union für mich ein Herpes Bläschen der Bundesliga: Ist unangenehm und keiner will es haben.

    Bei der Hoeneß Verlängerung hoffe ich auf einen Domino Effekt bei den noch offenen Vertragsgesprächen. Wer nämlich weiß, wer ihn in der kommenden Saison trainiert, besitzt womöglich eine höhere Bereitschaft, beim VfB zu bleiben oder zu unterschreiben.

    • Bernd sagt

      Wobei die Verlängerungen mit den eigenen Spielern ja schon alle durch sind. Bei Nübel und Undav sind es auch nicht die Spieler, welche das kompliziert machen.

  2. Benny sagt

    In der Innenverteidigung wird es langsam dünn. Die Variabilität durch die Verletzung von Roualt eingeschränkt. Die Dreierkette wird wohl erst mal unwahrscheinlich. Es seidenn er zieht einen Stenzel oder Vagnoman dort hin. Anton und Ito werden jetzt zur Achillesferse.

    Mal sehen ob nun einer der Jungen mal reingeworfen wird, wie Chase z.B.

    Wenn wir jetzt mit einem Sieg in die Pause gehen, wird die Champions League immer wahrscheinlicher.

    • @buzze sagt

      Gegen Union hieß die Dreierkette Stenzel, Rauoult, Ito. Beim Heimspiel in Sinsheim wird dann wohl Anton die zentrale Rolle übernehmen.

  3. Benny sagt

    Ok. Aus meiner Sicht haben wir klassisch 4-2-3-1 gespielt, mit Stenzel als RV. Josh davor. Millot klassisch 10. Später brachte er Undav genau dorthin. Mit Lewelings Einwechslung hat er Vagnoman dann nach hinten gezogen. Aber wahrscheinlich ist meine fußballtaktische Kompetenz zu schlecht. Durchaus möglich.

    Ich würde jedenfalls kein Geld auf mich setzen, haha :)

    • @abiszet sagt

      Ich habe mich während des Spiels auch gefragt, was das eigentlich ist: Dreier- oder Viererkette? Stenzel rückte sehr weit ein und füllt bei Ballbesitz auf, während Mittelstädt sehr breit ging. Es war eine situative Mischung aus Dreier- und Viererkette.

  4. Benny sagt

    Das kann natürlich auch sein. Vielleicht war es so etwas wie eine pendelnde Viererkette. Das würde auch zu deiner Erklärung passen. Aber wahrscheinlich war es nichts von alledem und Hoeneß hat Dinge gemacht, die wir einfach nicht verstehen können. :)

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