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Eine Mannschaft zum Verlieben

Wäre dieser Text ein Instagram-Post, er würde nur aus Herzleaugen und Love-Emojis bestehen. Damit wäre fast alles gesagt. Aber eben nur fast.

Als VfB-Fans haben wir viel erlebt. Aber diese 102 Tage? Kann mich nicht erinnern, dass der VfB einmal 13 Bundesligaspiele und zwei Pokalrunden gespielt hätte, ohne ein einziges schlechtes Spiel absolviert zu haben. Von Mitte September bis Ende Dezember machte der VfB auf dem Platz nur Freude.

An Heiligabend sprach ich mit meinem Vater immer über den VfB. Das ergab sich meist von selbst, wenn er statt Würstchen mit Kartoffelsalat eine der französischen, griechischen oder italienischen Spezialitäten von mir aufgedrängt bekam, die wir zusätzlich zum Weihnachtsklassiker reichten.

Da bekam mein Vater automatisch schlechte Laune und das brachte ihn wie von selbst zum VfB. Hätte mein Vater Twitter gekannt, er hätte mit seinem Bruddeln viele Follower begeistert. Was hätte er zu dieser Mannschaft gesagt, zur Rumpfhinrunde der Saison 2020/2021?

Selbst er, der zwar alle VfB-Spieler liebte, aber doch immer bei jedem Verbesserungsbedarf sah, hätte nicht meckern können. Der arschcoole Sportdirektor Sven Mislintat hat zusammen mit dem smarten CEO Thomas Hitzlsperger eine Mannschaft gebaut, die Spaß macht. Mit einem Fußball, auf den man sich jedes Wochenende freut. Trainer Pellegrino Matarazzo hat es geschafft, einen Spirit in die Mannschaft zu bringen, der die VfB-Fans überrascht. Als Supporter war man es gewohnt, nach einem Rückstand das Spiel innerlich abzuhaken. Dass der VfB noch einmal zurück kommt, beeindruckende Nehmerqualitäten hat, gehörte bisher nicht zur DNA der Brustringträger.

Und das mit einer Mannschaft, die nahezu identisch ist mit der, die sich durch die zweite Liga rumpelte. Macht es wirklich den großen Unterschied aus, dass es in der ersten Liga vermeintlich leichter ist für dieses Team? Und dass Mario Gomez und Holger Badstuber nicht mehr dabei sind und Waldemar Anton dazu gestoßen ist? Wie konnte der VfB (wieder) zum Verein für Begeisterung werden?

Der VfB ist traditionell schon immer eine Euphorie-Mannschaft gewesen. Wenn es läuft, dann läuft es. War in den letzten Spielen der Meistersaison so und in der Rückrunde 2018 unter Tayfun Korkut. Aber Captain Kork beherrschte nur kurz die Kunst, zwar zu gewinnen, aber schlecht zu spielen. Jetzt spielt der VfB sogar ansehnlich, selbst wenn er mal verliert. Das konnte bisher nur einer in Stuttgart: Alexander Zorniger. Aber der konnte leider nicht gewinnen. Ausgang bekannt, aber sicher kein schlechtes Omen.

Ein Sinnbild für den VfB von September bis Dezember 2020 ist der 1:0-Siegtreffer gegen den SC Freiburg im Pokal: schnell, direkt, mutig, spielfreudig. Immer wieder kühn ins 1:1 zu zu gehen, stets die Vertikalität zu suchen, keine Angst vor Fehlern zu haben, das machte den VfB in diesen 102 Tagen aus. Das Herzstück dieser Mannschaft ist das Duo Wataru Endo und Orel Mangala. Sie sind Maschinenraum und Metronom des Spiels. Ihnen kannst du den Ball immer zuspielen. Selbst wenn es so eng ist wie in einer überfüllten S-Bahn, Endo und Mangala finden immer den Ausgang, ohne den Ball zu verlieren.

Das Schlimmste an diesem besten und schönsten VfB seit Jahren: Wir können nur passiv dabei sein (ausführlich: siehe hier). Die Fans und Supporter mussten schon viel mitmachen und es ist geradezu tragisch, diesen VfB nicht im Stadion sehen zu können. Nicht live erleben zu können, wie in der Abwehr Waldemar Anton und Marc-Oliver Kempf immer stabiler werden, während in der Offensive Tanguy Coulibaly und Silas Wamangituka Muskelkater im Gesicht bekommen, weil sie vor lauter Spielfreude so viel lachen. Keinen der Steckpässe Gonzalo Castros bewundern zu können, die der VfB-Kapitän so einfach aussehen lässt, die aber außer ihm nur wenige spielen können. Nicht mit Tausenden anderen aufspringen zu können, wenn Nicolas Gonzalez wieder zu seinen unwiderstehlichen Sprints ansetzt, bei denen wir nicht wissen, ob er mit Ball ins Aus läuft oder doch noch den richtigen Zeitpunkt fürs Abspiel findet. Nicht in der Kurve und auf der Tribüne die unglaubliche Kraft von Dinos Mavropanos spüren zu können, der das Zeug zum Dirty Harry in der VfB-Abwehr hat.

Das ist nur eine Momentaufnahme und die Möglichkeit, enttäuscht zu werden, besteht natürlich nach wie vor, wir kennen ja unseren VfB. Können wir diesem „neuen“ VfB trauen und wie geht er mit Rückschlägen um? Das sind die spannenden Fragen für das Jahr 2021. Darauf freuen wir uns.

Los geht’s am 2. Januar mit einem Heimspiel gegen RB Leipzig. Mein Vater mochte übrigens Red Bull nicht. Trollinger war sein Getränk.

Zum Weiterlesen:
Unser Text „Vermissung“

Rund um den Brustring sieht “traumwandlerisch sichere Kombinationen auf engem Raum und sehenswerte Angriffsläufe”

Stuttgart International wäre zufrieden, “wenn sich das Team weiterhin so geschlossen und mutig präsentiert” und wenn der Fußball im Mittelpunkt stünde, die Taktik und Entwicklung der Spieler, und nicht Intrigen und vereinspolitische Winkelzüge.

Bild: imago Images/Ralf Ibing/firo/pool

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3 Kommentare

  1. drhuey sagt

    Beim Gonzalez musste ich wirklich lachen, wobei ich seine Effizienz als ein Haar in der Suppe sehe und hoffe, dass er wieder in die Spur findet. Ja, man traut dem Braten noch nicht richtig. Während andere sehr viel früher voller Anerkennung bezüglich des neuen VfB waren, war der leidgeprüfte VfB-Fan auch für schwäbische Verhältnisse sehr zurückhaltend. Gerade heute habe ich anlässlich des Jahreswechsel mit einem alten Weggefährten aus Dortmund telefoniert und wehmütig meinte er: “Ihr habt den Mislintat, der Junge liefert einfach.” Damit hat er nur eine Komponente des Erfolgs benannt, aber die Trefferquote ist schon ein bisschen beängstigend. Es war gefühlt unsere erste Fussball-Diskussion, bei der wir mehr über BVB-Probleme gesprochen haben als über solche beim VfB. Das hat schon gut getan. Ihr habt den Korkut erwähnt, und wenn man bedenkt, dass so arbeitsscheue Nullen wie Weinzierl bei uns auch schon auf der Bank saßen, wird das Ausmaß vergangenen Versagens deutlich. Eine Steigerung dazu wäre nur Egon Coordes oder natürlich das Missverständnis mit Ansage: der Winni Schäfer.
    Aber das ist “ancient history”; heute sind wir verliebt, geben aber unsere eigene Wohnung noch nicht auf.

  2. Clemens sagt

    Aus dem “Rumpelfußball” der zurückliegenden Saison ist tatsächlich ein zartes Pflänzlein des “Powerfußballs” gewachsen. Die Gründe sind dabei nicht nur ein Jahr mehr Zeit für die vielen neuen Spieler, sich an das neue Umfeld und den gespielten Fußball zu gewöhnen, sondern sich auch sportlich weiter zu entwickeln. Zudem ist nun auch endlich das Mantra “Gomez” obsolet. Der von mir zutiefst geschätzte und legendäre 2007-Meister hatte in der zurückliegenden Saison die schier erdrückende Last des Ziel-Spielers auf seinen Schultern zu tragen. Dies passte ganz offensichtlich nicht zu seiner abfallenden Form und Physis und machte den VfB durch sein eindimensionales Spiel für viele Mannschaften der 2. Liga auch extrem leicht ausrechenbar. Dass Gomez zudem nicht mit entsprechenden Flanken gefüttert wurde, weil es nicht ins Konzept von Walter und Matarazzo passte, tat ein übriges. Nicht ohne Grund hat sich der erfolgreiche Kern der Mannschaft erst im Saisonendspurt (ohne Gomez) gefunden. Dass Kaminski und Badstuber durch das sportliche Rost gefallen sind, wird kaum jemanden verwundern. Und selbst Didavi hat keinen Erbhof mehr beim VfB inne. Hierdurch haben sich nunmehr realistische Möglichkeiten auf Einsatzzeiten für die jungen Talente beim VfB ergeben, was vermutlich auch in Zukunft bei Verhandlungen mit weiteren jungen Talenten ein gewichtiges Pfund sein dürfte, mit dem der VfB wuchern kann.

    Wer mir bei all den Lobgesängen ein klein wenig zu schlecht wegkommt, ist Matarazzo. Er ist ebenfalls ein Neuling als Chef-Trainer und auch seine Lernkurve finde ich zutiefst beeindruckend. Ob es taktische Aspekte wie die 3’er- und 5’er-Kette betrifft oder sein Auswechseln bzw. das In-Game-Coaching, Matarazzo hat in fast allen Punkten Fortschritte gemacht. Zudem scheinen sich die jungen Spieler bei ihm wohlzufühlen und entwickeln sich taktisch und sportlich weiter, weil sie einen Trainer hinter sich wissen, der ihnen auch mal ein oder zwei schlechte Spiele am Stück verzeiht.

    Womit wir beim traditionell-schwäbischen “Aber” angekommen wären. Es wird Rückschläge geben. Dass sage nicht ich, sondern kommt vom “Dude” Mislintat persönlich. Und natürlich wird er Recht behalten. Gelb- und Rot-Sperren, Verletzungen, Form-Krisen, etc. werden relativ sicher dazu führen, dass der VfB im weiteren Saisonverlauf Einbrüche erleben wird. Und dann beginnt das spannende Krisenmanagement des VfB. Entweder reflexhaft-aktionistisch, wie in den Jahren zuvor oder pragmatisch-realistisch und mit ruhiger Hand. Aber ich traue es den verantwortlichen Protagonisten zu, dass sie auch bei möglichen Krisen die MS-Cannstatt sicher durch die stürmische See lotsen, so dass am Ende der Saison der sichere Klassenerhalt steht.

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